Von Dr. Norbert Beck und Claudia Jaspers
Wir trauern um Dr. Peter Paul Flosdorf, der im Alter von 95 Jahren am 18. August 2023 verstorben ist. Dr. Flosdorf war von 1953 bis 1992 als Leiter des heutigen Therapeutischen Heims Sankt Joseph (THSJ) im Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) und zeitweise als Leiter der heutigen Erziehungs- und Familienberatung | EB im SkF und der Fachakademie für Heilpädagogik Heilpädagogischen Seminar (HPS) im SkF tätig und hat wie kein zweiter die Entwicklung der Einrichtungen und des Trägervereins geprägt.
Nach der Zerstörung des Josephsheims am 16. März 1945 begann der Katholische Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder (der heutige Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) e.V.) 1951 mit dem Wiederaufbau der Einrichtung. In dieser Phase des Wiederaufbaus wurde 1952 auf Initiative von Dr. Walter Schraml, ein damaliger Mitarbeiter des Psychologischen Institutes der Universität Würzburg, im Heim die deutschlandweit erste heilpädagogisch-psychotherapeutische Abteilung eingerichtet und folgte dem Modell der Child-Guidance-Clinic, das Schraml in den USA kennengelernt hatte. Es handelt sich dabei um einen Ansatz der multiprofessionellen Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensproblematiken und psychischen Störungen im Zusammenwirken von Psychiater:innen, Kinderärzt:innen, Psychothera-peut:innen und Fürsorger:innen. 1953 konnte der SkF den jungen Psychologen Dr. Peter Flosdorf, gerade fertig mit dem Studium, für die neu gegründete heilpädagogisch-psychotherapeutische Beobachtungsstation gewinnen und übertrug ihm schon kurze Zeit nach der Einstellung die Leitung des Heims.
Am 10. Juli 1928 in Siegen/Westfalen geboren, studierte Flosdorf von 1947 bis 1953 Philosophie, Theologie und Psychologie in Paderborn und München. Damit war der Grundstein gelegt für ein außergewöhnliches berufliches Wirken, das regional und überregional die gesamte Entwicklung der Jugendhilfe wie auch die Heilpädagog:innenausbildung in den Folgejahren prägen sollte. So nahm Flosdorf neben der Notwendigkeit von stationären Hilfen auch den Bedarf nach Beratung für Familien im Umgang mit schwierigen Kindern wahr und gründete bereits 1955 die erste Erziehungsberatungsstelle in Würzburg. Mit der Erweiterung durch Außenstellen in Bad Kissingen, Bad Neustadt, Hammelburg, Haßfurt und Kitzingen prägte er den Aufbau der gesamten Erziehungsberatung in Nordbayern. Flosdorf erkannte früh, dass die im Heim untergebrachten Kinder nur schwer in der Regelschule zu beschulen waren. Mit der 1962 gegründeten Heimschulklasse legte er den Grundstein für die Einrichtung einer trägereigenen Erziehungshilfeschule, heute Elisabeth-Weber-Schule, Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt sozial emotionale Entwicklung (EWS) im SkF. Er integrierte damit die schulische Förderung in die therapeutische Konzeption des Heims. Nachdem Ende der 1960er-Jahre die „Zwergenschulen“ aufgelöst wurden, wurde die Heimschule zu einer selbstständigen sechsklassigen „Sonderschule“ für erziehungsschwierige und verhaltensgestörte Kinder ausgebaut; parallel dazu fand der Aufbau der Heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) im SkF statt.
Für die pädagogische Arbeit mit den erziehungsschwierigen und auffälligen Kindern bedurfte es einer Weiterqualifizierung von pädagogischem Personal. Aus dieser Erkenntnis heraus gründete Flosdorf 1967 mit dem AFET, dem Bundesverband für Erziehungshilfe, das Heilpädagogische Seminar Würzburg und konzipierte frühzeitig ein Konzept für die Ausbildung von Heilpädagog:innen. Die inhaltliche Ausgestaltung der Heilpädagog:innenausbildung ist bis heute fest mit dem Namen Peter Flosdorf verbunden. Weitere Meilensteine seines Wirkens in der Entwicklung differenzierter Angebotsstrukturen wurden 1976 die Planung und Erstellung der endgültigen Konzeption eines Aktivspielzentrums für Kinder sozial benachteiligter Familien, das heutige Kinderzentrum Zellerau / SPIELI im SkF, sowie 1980 der Kinder- und Jugendfarm.
Die Gesamtentwicklungen führten in das gemeinsam mit dem Bayerischen Sozialministerium entwickelte und 1982 auch baulich realisierte Konzept des Überregionalen Beratungs- und Behandlungszentrums Würzburg (ÜBBZ) im SkF. Dieses Konzept verbindet bis heute intensive therapeutische stationäre Hilfe mit der Beschulung in einem Förderzentrum mit Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, mit Elternarbeit, einer kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung und heilpädagogisch-therapeutischen Fachdienstangeboten. In die bauliche Verwirklichung des Konzeptes floss auch das zusammen mit Prof. Wolfgang Mahlke entwickelte Konzept der heilpädagogischen Raumgestaltung ein, das als Würzburger Modell, im Lauf der Jahre in zahlreichen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen bundesweit aufgegriffen und umgesetzt wurde und nach wie vor wird.
Weit über die regionalen Grenzen ist Peter Flosdorf mit seiner vielfältigen Gremienarbeit, mit zahlreichen Publikationen (seine Bibliografie umfasst über 180 Veröffentlichungen), mit der Mitgestaltung von Fachtagungen und der Beteiligung an Forschungsprojekten impulsgebend und richtungsweisend für die die gesamte Entwicklung der erzieherischen Hilfen und der Heilpädagog:innenausbildung in der Bundesrepublik. Stellvertretend seien hier die 1972 vom Bundesministerium für Familie und Gesundheit beauftragte Konzeption und Umsetzung der Wanderausstellung Heimerziehung im Wandel (siehe: Heimerziehung – Heimplanung. Dokumentation einer Ausstellung Frankfurt 1972), die Filmreihe Heimerziehung im Wandel, das Standardwerk Theorie und Praxis stationärer Erziehungshilfe (1988) oder die Beteilung an der bundesweiten Studie Effekte erzieherischer Hilfe und ihre Hintergründe (2002) genannt.
Für Familien, Kinder und Jugendliche und in gleicher Weise für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war es die Begegnung mit dem Fachmann Peter Flosdorf, aber insbesondere auch die Begegnung mit dem Menschen Peter Flosdorf, die so prägend war. Wenn sich heute ehemalige Kinder und Jugendliche des Therapeutischen Heimes Sankt Joseph melden, dann vor allem um sich nach „ihrem Flosi“ zu erkundigen. In seiner charismatischen Art war er die Personifizierung einer Einrichtung geworden. Man ging nicht in die Erziehungsberatungsstelle oder das Heim, man ging zu Flosi. Man arbeitete nicht beim SkF, sondern bei „Flosi“, wie er immer noch liebevoll genannt wird.
1993 ging Peter Flosdorf in den Ruhestand und übergab den Staffelstab der Leitung an seinen Nachfolger Harald Patzelt. Über seinen Ruhestand hinaus verfolgte er die Entwicklungen immer mit einem wachen und kritischen Auge, manche Entwicklungen nahm er schmerzhaft wahr. In der Aufarbeitung der Heimerziehung der 1950er- bis 1970er-Jahre erlebte er gelegentlich einen unangemessenen Generalverdacht inadäquaten pädagogischen Handelns zu dieser Zeit. Hatte er doch für die jungen Menschen Rahmenbedingungen und Entwicklungen geschaffen, die er in dieser Aufarbeitung nicht berücksichtigt sah. Lange bevor die Fachwelt sich mit Partizipationskonzepten beschäftigte, hatte er im Josephsheim schon eine intensive Beteiligung der jungen Menschen an Entscheidungen durch die Installation eines Kindergerichtes, später Kinderkonferenz, initiiert. Flosdorf gestaltete die Wohngruppen familienanalog, er reduzierte die Gruppengrößen, installierte psychologische Fachdienste und unterschiedliche Angebote wie Ferienfreizeiten, Spielsportangebote oder ähnliches. Die heilpädagogische Ausrichtung und die Zusammenarbeit mit den Eltern machte er zu einem zentralen konzeptionellen Baustein. Damit war Peter Flosdorf seiner Zeit weit voraus, er war Vordenker und Gestalter. Als Referent bei Fachveranstaltungen, mit seinen Veröffentlichungen oder in der wissenschaftlichen Beteiligung an zum Teil umfangreichen Studien blieb er weiterhin aktiv.
Seine umfangreichen Verdienste fanden in zahlreichen Auszeichnungen Würdigung.
1979 Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, 1989 Verdienstkreuz 1. Klasse, 1993 Silvesterorden – das Ritterkreuz des Papstes, 1994 Bayerischer Verdienstorden, 2014 Bayerische Verdienstmedaille für soziale Verdienste.