Neu im Weiterbildungsprogramm unserer Akademie EAH im Jahr 2024 ist die Weiterbildungsreihe „Heilpädagogik wirkt in Leitungsfunktionen“ Einen Einblick in das Format bietet das folgende Interview mit dem Referenten Michael Michels. Außerdem können Sie an einem Online-Treffen mit dem Referenten am Mittwoch, den 21. 02. 2024, von 17:00 –19:00 Uhr, teilnehmen. Die Veranstaltung ist kostenlos, Interessierte erhalten einen Link zur Teilnahme unter: info@eahonline.de.

Michael Michels leitet die Weiterbildungsreihe „Heilpädagogik wirkt in Leitungsfunktionen“

Herr Michels, Sie haben mit der Europäischen Akademie für Heilpädagogik die Weiterbildungsreihe Heilpädagogik wirkt in Leitungsfunktionen überarbeitet und neu ausgerichtet. Der Neustart beginnt im April 2024, erstmals haben Sie Veranstaltungen zum Thema Leitung bereits vor über 20 Jahren angeboten. Was hat Sie bereits damals dazu bewegt, ein Angebot in dieser inhaltlichen Ausgestaltung speziell für Heilpädagog:innen zu konzipieren und was bewegt Sie noch heute?

Unmittelbar nach dem Studium hatte ich eine Leitungsfunktion auf Bereichsebene übernommen. In meiner beruflichen Praxis kamen daher bald Anforderungen wie Mitarbeiterführung, Konfliktmanagement oder vielfältige organisationale Aufgaben auf mich zu, die mich stark motivierten, mich mehr mit Führungswissen auseinanderzusetzen und entsprechende Handlungskompetenzen zu vertiefen. Wichtige Impulse entnahm ich der Fachliteratur, Weiterbildungen, Supervisionssitzungen und einem regelmäßigen fachlichen Austausch mit Kolleg:innen. Die Erkenntnis reifte, dass wichtige Prinzipien der Heilpädagogik wie eine dialogische Kommunikation und Beziehungsgestaltung oder eine konsequente Ressourcenorientierung zentrale Gesichtspunkte eines zeitgemäßen, partizipativen Führungsverständnisses sind. Es lässt sich eine tragfähige Schnittmenge heilpädagogischen Denkens mit dialogisch orientierten Führungskonzepten definieren. Ein spezieller Dank gilt meinem langjährigen Freund Klaus Esser, der mit mir gemeinsam die Ideen zu dieser Weiterbildung entwickelt und über viele Jahre umgesetzt hatte.
Die Frage nach meiner aktuellen Motivation ist schnell beantwortet. Die sehr gute Resonanz über fast dreißig Jahre zeigt, dass dieses Angebot den „Nerv“ in der Praxis trifft, also als sehr hilfreich von den Teilnehmenden angenommen wird.

Welche spezifischen Aufgaben und Verantwortlichkeiten hat eine Führungskraft in der Heilpädagogik? Welche spezifischen Aufgaben identifizieren Sie?

Diese Frage ist nicht abschließend zu beantworten. Der Eindruck sowohl in den Seminaren als speziell im Rahmen meiner Coachingtätigkeit bzw. der Organisationsberatung ist, dass die Aufgabenfelder und die Anforderungen hinsichtlich Umfang und Komplexität zunehmen.
Allgemein lassen sich wichtige Aufgaben exemplarisch mit folgenden Stichworten benennen: Rollengestaltung, Mitarbeiterführung, Dienstaufsicht und Dienstplanmanagement , Personalentwicklung, Kommunikation mit Klienten:innen, Angehörigen, Leistungsträgern und weiteren Akteur:innen im Sozialraum, Organisationsentwicklung, Fachaufsicht, Weiterentwicklung der Leistungsangebote, fachpolitische Vertretung, usw.
Diese Auflistung ist nicht vollständig und die genannten Aufgabenfelder sind weiter zu differenzieren. Einerseits sind vielfältige Anforderungen gegenüber unterschiedlichen Anspruchsgruppen zu integrieren und alle Aufgabenbeinhalten – mal mehr, mal weniger – Ansatzpunkte, heilpädagogisch wirksam zu werden. Es ist die spezifische Herausforderung für Heilpädagogen:innen in Leitungsfunktionen und ein zentrales Anliegen der Weiterbildungsreihe diese Ansatzpunkte zu erfassen und zu gestalten, z.B. in der Begleitung von Krisen, in Team und Fallbesprechungen, in Personalentwicklungsgesprächen etc.

Welche Ressourcen befähigen Heilpädagog:innen Ihrer Meinung nach in besonderer Weise für Leitungspositionen?

Grundsätzlich sind Heilpädagogen:innen vermutlich so verschieden, wie andere Menschen auch und nicht alle streben die Übernahme von Führungsaufgaben an, bzw. sind dazu prädestiniert.
Hiervon unabhängig scheint sich die spezifische berufliche Sozialisation im Leitungshandeln abzubilden. Viele Fachkollegen:innen, die mir in Führungsrollen begegnet sind, zeichneten sich durch folgende Fähigkeiten aus: professionelle Empathie, Belastbarkeit, Fähigkeit zum Perspektivwechsel, Ressourcenorientierung, Kommunikationsfähigkeit, gute Selbststrukturierung und insbesondere eine dem dialogischen Prinzip entsprechende Haltung gegenüber den Mitmenschen.
Bisweilen ist es ein noch erforderlicher Entwicklungsschritt, diese Fähigkeiten, die in der direkten Arbeit mit den Klient:innen problemlos entfaltet wurden, in das Selbstverständnis und die Rolle als Führungskraft zu übertragen.

Welche Herausforderungen begegnen Heilpädagog:innen in Leitungsfunktion aktuell? Ist eine Veränderung der Herausforderungen in den letzten Jahren beobachtbar?

Im Laufe der Jahre sind durchaus neue Herausforderungen deutlicher hervorgetreten.
Geblieben ist die Notwendigkeit, zugleich Rollensicherheit und Rollenflexibilität zu entwickeln. Das wird in der Vereinigung von authentisch und situativ angemessen strukturierenden und fordernden Handlungsweisen mit unterstützenden und integrativen Interventionen in einem partizipativem Führungsstil deutlich. Seit einigen Jahren ist es zunehmend notwendig geworden, sich mit Tendenzen einer falsch verstandenen Ökonomisierung auseinanderzusetzen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich müssen Führungskräfte in heilpädagogischen Einrichtungen wirtschaftlich verantwortlich denken und handeln und Effizienz und Effektivität ihrer Strukturen und Prozesse reflektieren. Aber – der Sinn heilpädagogischer Arbeit lässt sich nicht errechnen und zentrale Aspekte heilpädagogischer Qualität und Professionalität sind nur begrenzt messbar. Insoweit besteht die Notwendigkeit heilpädagogische Prinzipien auf organisationaler Ebene nachhaltig vertreten zu können.
Aktuell stellt die Fachkräfteproblematik ein großes Problem in nahezu allen Handlungsfeldern dar. Führungskräfte sind in besonderer Weise gefordert sicherzustellen, dass in ihren Einrichtungen und Diensten ausreichend und gut qualifiziertes Personal vorhanden ist. Heilpädagogik ist personales Handeln, heilpädagogische Qualität entwickelt sich in direkter Abhängigkeit zu den personalen und fachlichen Qualitäten – es handelt sich dabei um zwei Seiten einer Medaille – der handelnden Personen. Insoweit werden Führungskräfte zunehmend viel Energie und Kompetenz hinsichtlich der Personalgewinnung, Bindung und Qualifizierung investieren bzw. entwickeln müssen.

Wie kann ein:e Heilpädagog:in in Leitungsfunktion ein unterstützendes und förderliche Umfeld für die Mitarbeitenden wie auch eine positive Organisationskultur stärken?
Führen versteht der Managementtrainer und Coach Daniel Pinnow aus systemischer Perspektive als „die Gestaltung einer Welt, der andere gern angehören wollen“.

Ich stimme dieser Aussage im vollen Umfang zu und ergänze aufgrund meiner Erfahrungen: Eine Organisation zu führen, heißt, eine Welt zu gestalten, der die Menschen gerne angehören und die sie mitgestalten können und wollen.
Zunächst ist es wichtig, dass die Mitarbeitenden sich gut versorgt (Gehalt, Vertragssicherheit, etc.) wissen. Gleichfalls ist es von hoher Bedeutung, sich mit den Zielen und Vorgehensweisen der Organisation identifizieren zu können, fachliche und/oder hierarchische Entwicklungsmöglichkeiten für sich zu sehen und individuelle Beachtung und Wertschätzung zu erfahren. Weiterhin fördern Transparenz der Prozesse und Authentizität und Zuverlässigkeit der Führungskräfte eine Vertrauenskultur. Zentrale Motivationsfaktoren darüber hinaus sind Möglichkeiten der Mitgestaltung und Mitbestimmung, die geeignet sind, individuelle Beiträge zum Gelingen des Ganzen zu leisten und sich in diesem Sinne als wertgeschätzt und wirkungsmächtig zu erleben. Dies erfordert u.a.: Gestaltungsräume, entsprechende Unterstützung und individuelle Rückmeldung.

Welche Rolle spielt die Reflexion und Weiterbildung für Führungskräfte in der Heilpädagogik?

Eine wichtige Frage. Am Ende unseres Gesprächs betone ich gern den Stellenwert dieser Gesichtspunkte. Reflexion, insbesondere Selbstreflexion ist – ähnlich wie Kommunikation – eine Schlüsselqualifikation heilpädagogischer Professionalität. Sie erschließt die Bedeutung der Prozesse, ermöglicht eine Annäherung an andere Sicht- und Erlebensweisen, vertieft und differenziert die Selbstwahrnehmung und führt so zu einer Erweiterung des Wahrnehmungsspektrums. Dies sind wichtige Voraussetzungen zur Entwicklung von Handlungsalternativen.
Praxisreflexion und Weiterbildung sind – wenn sie über die Vermittlung von Informationen hinausgeht – sowohl für die Entwicklung der eigenen Leitungskompetenzen als auch als Instrumente der Personalentwicklung für die Mitarbeitenden zentrale „Stellschrauben“ einer heilpädagogischen Führungskultur. Letztlich entsprechen die Kompetenzen, die uns sowohl in der heilpädagogische Praxis als auch in der der Ausübung von Leitungsfunktionen den Halt geben und so wirksam werden lassen, einem verinnerlichten Orientierungs- und Handlungswissens. Hierzu fällt mir ein Satz des schwedischen Künstlers Carl Larsson ein:

„Wenn man alles gelesen und alles wieder vergessen hat, was dann
übrig bleibt, das ist Bildung.“

Weitere Informationen www.eahonline.de/w-6-2024/