Ein Erfahrungs- und Ideenbericht von Sandra Leginovic, Heilpädagogin (M.A.), Inhaberin einer heilpädagogischen Praxis und BHP Mitglied.

Bereits seit Mitte März sind in Hessen Frühförderstellen, Heilpädagogische Praxen und Autismuszentren für ihre KlientInnen geschlossen. Das bleibt (Stand heute 13.05.2020) auch mindestens noch bis zum 05.06.2020 so.

Keine Einzelförderungen, keine Spieltherapien, keine Psychomotorik, kein kreatives Arbeiten mit Ton oder Farben und keine soziale Kleingruppenarbeit dürfen stattfinden. Auch die Zusammenarbeit mit den Sorgeberechtigten kann nicht im unmittelbaren Kontakt erfolgen. Gleichzeitig sind Schulen und Kitas immer noch für die meisten Kinder und Jugendlichen geschlossen. Welche direkten und indirekten Folgen das für die sozial-emotionale Entwicklung vieler Heranwachsender und welche Konsequenzen das für den Kinderschutz haben kann, muss ich hier niemandem erklären.

Mit meinen Kolleginnen aus der BHP-Landesfachgruppe der Selbstständigen in Hessen bin ich regelmäßig im Kontakt. Auch mit meinen KooperationsparterInnen und interdisziplinären Netzwerken. Wir teilen unsere Erfahrungen und sprechen über die neuesten Verordnungen zum Infektionsschutz. Als Referentin in Aus-, Fort- und Weiterbildung setze ich mich mit technischen Lösungen für Onlineseminare auseinander. Zunächst widerwillig. Inzwischen kann ich dem ganzen durchaus positive Seiten abgewinnen.

Die Entscheidung, ob ein Glas als halb leer oder halb voll anzusehen ist, bleibt ja jedem selbst überlassen. Als Ende Februar ein 8-jähriger Besucher meiner Heilpädagogischen Praxis zu mir sagte, dass er das Wort Corona langsam nicht mehr hören könne, ahnten wir beide zwar, dass wir es in der nächsten Zeit noch häufiger verwenden würden, jedoch vor welche Herausforderungen uns die mit dem Virus verbundenen Kontaktbeschränkungen stellen würden, war nicht abzusehen.

Wie bleibe ich mit den Kindern und Jugendlichen im Kontakt? Wie kann es mir gelingen den Faden zu ihnen nicht abreißen zu lassen? Wie gestalte ich weiterhin die so wichtige Beziehungsarbeit? Wie kann ich ohne direkten Kontakt mit Familien weiter arbeiten? Wie begegne ich ihnen in möglichen Krisen?
Hier heißt es einfallsreich und kreativ zu sein, sich an den Umgang mit neuen oder bisher nicht genutzten Medien heranzuwagen und neue Wege zu gehen.

Kontakt zu den Kindern halten

Alle Kinder erhalten hin und wieder Post von mir. Manchmal sind es Spiel- und Beschäftigungsideen, auch wurden schon Blumensamen verschickt. Mit einigen älteren Kindern und Jugendlichen bin ich viel draußen unterwegs. Wir gehen spazieren im Feld und im Wald. Dabei führen wir Gespräche und erkunden die Umgebung. Wir sprechen über Gefühle, über den veränderten Alltag, die fehlenden Freunde, die Sehnsucht nach Normalität, die guten Seiten am Lockdown, die Arbeit der Eltern, die sich plötzlich zu Hause breit macht und zur Auflösung zuvor gekannter Grenzen führt, Ängste, Schularbeiten, über alles was nervt und über lustige Begebenheiten. Wir nehmen auch Becherlupen oder Kaleidoskope mit. Manchmal auch eine Kamera um Tiere, Blumen oder uns selbst zu fotografieren. Wir finden bemalte Steine und legen sie wo anders wieder aus, wir haben schon ein vierblättriges Kleeblatt gefunden und einen Regenbogen gesehen. Wir wissen jetzt, dank Internet, wie man Pusteblumen haltbar machen kann und können die Beschränkungen dadurch auch als Bereicherungen wahrnehmen.

Ich möchte im Folgenden von den Erfahrungen aus meinem veränderten Alltag erzählen und von einer glücklichen Situation mit einem Kind, in die ich ohne diese Kontaktbeschränkung nie gekommen wäre.

Als ich zu Gast in einem Puppenhaus war

Was als Versuch startete ist inzwischen zu einem festen Termin in der Woche geworden. Ich videotelefoniere mit einem 7-jährigen Kind wöchentlich eine Stunde lang. Das machen wir über das elterliche Smartphone. Ich werde zum vereinbarten Termin angerufen. Dann wird mir das Kind von einem Elternteil übergeben. Das ist fast wie in einer Übergabesituation an der Praxistür. Man begrüßt sich, wechselt ein paar nette Worte oder tauscht kurz Informationen. Dann beginnt die Zeit für das Kind. Die Eltern verlassen den Raum. Anders ist, dass wir nicht in der Heilpädagogischen Praxis sind, sondern dass ich über den Bildschirm in den Wohnbereich der Familie oder in das Kinderzimmer komme.

In den ersten Stunden habe ich mit dem Kind gebastelt. Wir haben uns gegenseitig beim Papierfalten zugesehen und es dem anderen nachgemacht. Eine Unterhaltung findet beiläufig statt. Vor manchen Stunden sende ich benötigtes Material per Post oder als Datei via E-Mail an die Familie. Die Eltern stellen dem Kind dann das Material zur Verfügung. Das können Ausmalbögen oder eine Schnittvorlage sein. Oder eine Anregung zum Bau von Stabpuppen aus Pappe auf Holzspießen.

Sehr beliebt ist auch das Ziehen von Fragekärtchen. Sie haben unterschiedlich farbige Rückseiten. Ich halte den Kartenfächer in die Kamera, das Kind wählt die Farbe. Hier steht z.B. „Wenn Du ein Bonbon wärst, wie würdest Du schmecken? “ Oder: „Außerirdische laden Dich zu einem Weltraumflug ein. Wen würdest Du mitnehmen?“ (siehe FN 1), und schon sind wir im Gespräch. Manchmal lese ich auch eine Geschichte vor. Doch mit der Zeit entwickelten wir uns zu richtigen Videokonferenz-Profis.

Sandra Leginovic und Handpuppe Fritzi

Meine Handpuppe Fritzi kommt auch zum Einsatz. Sie ist für das Kind eine beliebte Gesprächspartnerin. Weil Fritzi immer alles verwechselt und falsch sagt, oder andere Namen für Dinge verwendet, wird viel gelacht und die Stimmung ist heiter und gelöst. Das führt dazu, dass wir immer mutiger werden und neue Sachen ausprobieren, was man noch so machen kann. So kam es auch, dass ich plötzlich in einem Puppenhaus saß. Ein bisschen fühlte ich mich dabei wie Alice im Wunderland. Es hüpften kleine Ponys durchs Bild, mit denen ich sprechen konnte. Wir haben so das Rollenspiel über Videotelefonie entdeckt. Das Kind gibt die Regieanweisungen, wechselt für mich den Raum im Puppenhaus und bestimmt, wie Fritzi oder ich in unserer jeweiligen Rolle gerade agieren sollen. Ein Handlungsstrang entsteht, der es erlaubt in der nächsten Videospielstunde an die zurückliegende anzuknüpfen. Wir sind Akteure mitten in der Geschichte und es fühlt sich fast so an, als wären wir im gleichen Raum.

Wenn mir jemand vor 8 Wochen erzählt hätte, dass ich demnächst mit Kindern über Videotelefonie spiele, hätte ich das nicht für machbar gehalten. Es ist eigentlich wie in einem therapeutischen Raum – nur ohne Raum. Ich gebe als Heilpädagogin den Rahmen und wenn nötig, den Impuls. Das Kind entwickelt das Spiel, ich lasse mich führen, bin präsent und verfügbar.

Arbeiten in den Praxisräumen – Die Spielscheibe

Ich habe meine Praxisräume nach einem Hygienekonzept und den Empfehlungen des RKI vorbereitet. Es gibt jetzt einen Einmalpapierhandtuchspender, jede Menge Desinfektionsmittel und einige neue Abläufe, die ich den Familien jetzt schon mitgeteilt habe. So werden nach Betreten der Praxis erst einmal die Hände gewaschen, jedes Kind darf maximal von einer Person gebracht und abgeholt werden; ich trage eine Alltagsmaske und wir können in der nächsten Zeit leider in der kleinen Küche keinen Pudding kochen.
Auch gilt das Abstandsgebot, dass sich anschaulich für Kinder mit einer Schwimmnudel anzeigen lässt. Aber wie ist das umzusetzen, wenn wir beispielsweise am Tisch sitzen, etwas betrachten, ein Brettspiel machen oder lesen? Dafür gibt es Scheiben aus Acrylglas, die zwischen Personen aufgestellt werden und sie vor dem gegenseitigen Austausch der Atemluft (Tröpfcheninfektion) schützen sollen.

Allein das Wort Spuckschutz klingt schon sehr unappetitlich

Spielscheibe mit Kaufladen

Jetzt aber mal ehrlich: was hält Fünfjährige hinter einer Glasscheibe? Wenn ich sage: das ist ein Spuckschutz, wird ihr Forscherdrang sie dazu bringen, ausprobieren zu wollen, ob das Ding hält, was es verspricht. Allein das Wort Spuckschutz klingt schon sehr unappetitlich. Außerdem haben wir uns noch nie angespuckt. Das macht für Kinder keinen Sinn. Also müssen wir dem Stück Glas zwischen uns einen Sinn, eine Bedeutung geben. Deshalb habe ich, zusammen mit dem Messebauer meines Vertrauens, die SPIELSCHEIBE entwickelt.

Die Spielscheibe hat unten eine Durchreiche die es ermöglicht Spielfiguren von der einen zur anderen Seite zu schieben oder diagnostisches Material und der Gleichen. Weiter oben hat sie ein Loch, an das ein Schlauch angesetzt werden kann und einen Schlitz. Das ermöglicht sie in vielfältiger Weise zu nutzen. Mal ist sie Murmelbahn oder dient Experimenten wie z.B. Wasser schütten oder Erbsen, mal kann sie Büro, mal Postfiliale sein. Sie kann im Kaufladen auf die Theke gestellt werden. Sie unterteilt den Bauteppich, ermöglicht aber die Durchfahrt von Autos. Sie ist aus sehr dickem Acrylglas und steht sicher auf Holzfüßen. Die abgerundeten Ecken verhindern Verletzungen.

SPIELSCHEIBE

Wir haben von der Spielscheibe noch ein paar weitere hergestellt und bieten sie zum Kauf an. Solange der Vorrat reicht bzw. Material verfügbar ist (Acrylglas ist aktuell so rar wie vor ein paar Wochen das Klopapier).
Dem „Spiel mit der Grenze“ kann jedes Kind einen eigenen Sinn geben und ich freue mich auf die vielen Ideen die bei ihrem Einsatz noch entstehen werden. Auch in der Zeit nach Corona, kann sie als Spielmaterial weiterhin zum Einsatz kommen.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie gesund bleiben und damit verbunden viel Kreativität bei der Umsetzung Ihrer heilpädagogischen Aufgaben.

Herzliche Grüße
Sandra Leginovic

Wenn Sie genaueres zur Spielscheibe erfahren möchten, klicken Sie bitte hier: https://seeger-solutions.de/spielscheibe.pdf

Fußnote 1: Rossa & Rossa: „Wenn Du ein Bonbon wärst…. 120 verrückte Fragekarten für den Einstieg in die Kinderpsychotherapie. Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2017