Jedes Jahr am 13. April wird der Internationale Tag der Heilpädagogik begangen. Ziel des Aktionstages ist es, die Profession zu stärken und die Heilpädagogik in der breiten Öffentlichkeit darzustellen. Zu diesem Anlass sprachen wir mit Sandra Roth über inklusiven Schulunterricht, die Heilpädagogik und die Rahmenbedingungen für eine inklusive Gesellschaft.

Frau Roth, Sie haben über das Leben mit Ihrer Tochter zwei Bücher geschrieben. Im zweiten Buch „Lotta Schultüte: Mit dem Rollstuhl ins Klassenzimmer“ beschreiben Sie die schwierige Suche nach einer Schule, die ein inklusives Lernen für Lotta ermöglicht. Was waren die größten Schwierigkeiten?

Eine Schule zu finden, die Lotta will – und die sie auch fördern kann. In NRW hat man einen Rechtsanspruch auf einen Platz an einer inklusiven Schule, Lotta hat eine Fachkraft als Schulbegleiterin, wir hätten nicht gedacht, dass es so schwer werden würde. Ein Rektor einer inklusiven Grundschule hat uns gesagt: „Gewickelt wird hier nicht“, das sei die Grenze der Inklusion. Dabei hatte diese Schule bereits einen Aufzug und Sonderpädagogen und Ergotherapeuten im Team. „Nicht, dass Sie denken, ich will nicht – ich kann nur nicht“, hat er dann nachgeschoben. In einigen Schulen, die wir gesehen haben, hatten die Lehrkräfte offensichtlich Angst, dass wir unser Kind dort anmelden – warum? Was brauchen Lehrer, damit sie so erfolgreich inklusiv arbeiten können wie etwa die Erzieher in Lottas Kita? Denn natürlich möchte ich auch als Mutter keine Schule, die meine Tochter zwar aufnimmt, sie aber nicht bestmöglich fördert. Lotta ist kein Einzelfall, in vielen Schulen mangelt es an den Rahmenbedingungen. Es bräuchte insgesamt kleinere Klassen, größere und barrierefreie Klassenräume, verpflichtende Weiterbildungen für die Lehrenden, Doppelbesetzung. Die Lehrer können die schulische Inklusion nicht allein stemmen, sonst werden sie weiterhin Angst vor Kindern wie meiner Tochter haben. Gleichzeitig reichen Rahmenbedingungen alleine auch nicht, es braucht auch die Haltung, um sie mit Leben zu füllen. Ich wünsche mir Lehrer, die Lottas Neugier sehen, ihren Ehrgeiz und ihren Humor – und deren Blick nicht direkt am Rollstuhl abprallt.

Teilhabe und Inklusion sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben und es braucht eine breite Akzeptanz, um sie umzusetzen. Wie kann man aus Ihrer Sicht eine solche Akzeptanz für inklusive Gesellschaftsstrukturen erreichen beziehungsweise steigern?

So lange jeder in seiner Nische lebt, wird es schwer mit der inklusiven Gesellschaft. Wir müssen uns begegnen können und uns kennenlernen. Sei es vermittelt über Bücher oder Artikel oder noch besser im richtigen Leben. Ich nehme meine Tochter überall mit hin, ins Konzert, auf die Skipiste, aufs Trampolin. Manchmal ist das kompliziert, weil etwa die Versicherungsrichtlinien keine Rollstühle vorsehen, aber es lohnt sich immer zu kämpfen. Beim nächsten Mal ist es dann schon etwas leichter und vielleicht plant der Veranstalter irgendwann sogar eine Rampe von vornherein mit ein. Wer einmal einen Rollstuhl die Treppe mit hochgetragen hat, der hat dann auch Verständnis dafür, dass eine Rampe nötig ist. Natürlich helfen dabei auch ausreichende finanzielle Mittel und zwar für alle. So lange Kinder in der Schule etwa nicht auf Toilette gehen, weil die zu eklig ist, so lange erscheint ein Umbau mit einem Aufzug als Luxus.

Am 13. April findet zum dritten Mal der Internationale Tag der Heilpädagogik statt. Was verbinden Sie mit dem Begriff Heilpädagogik?

Die Leiterin von Lottas Kita ist Heilpädagogin – bis heute prägt sie mein Bild von dieser Fachrichtung. Als wir Lotta anmelden wollten, hat sie sofort zugesagt, anders als alle anderen Kita-Leitungen, die nur die Probleme sahen. „Beim Regenbogen frage ich auch nicht, ob gelb unbedingt sein muss“, hat sie gesagt, „gelb gehört eben dazu.“ In der Kita wurde Lotta wunderbar gefördert, das hat mir gezeigt, wie gut Inklusion funktionieren kann. Alle Kinder wurden dort in ihrer Selbstständigkeit und Selbstbestimmung geachtet, auch Lotta, die aufgrund ihrer schweren Mehrfachbehinderung zum Beispiel nicht sprechen kann, blind ist und körperlich sehr stark eingeschränkt. Wir haben noch in der Kita mit Unterstützter Kommunikation angefangen und Lotta war überall dabei. So konnte sie beispielsweise wie die anderen Kindergartenkinder bei der Feuerwehr die Stange runterrutschen, nur eben auf dem Arm eines Feuerwehrmanns.

Die Heilpädagogik ist überall dort gefragt, wo Menschen jedes Alters aufgrund von sozialem Ausschluss, Beeinträchtigung oder (drohender) Behinderung vor Entwicklungs- und Teilhabebarrieren stehen. Welche Rolle nehmen soziale Berufe wie die Heilpädagogik in Ihrer Wahrnehmung bei dem Abbau gesellschaftlicher Barrieren ein? Glauben Sie, dass wir zukünftig mehr Fachkräfte brauchen oder vielleicht mehr ehrenamtliche Helfer, um inklusive Gesellschaftsstrukturen zu erreichen?

Menschen, die beruflich mit Kindern wie meiner Tochter zu tun haben, ob nun ehrenamtlich oder als Fachkraft, können zu so einem Scharnier zwischen den Welten werden, ähnlich wie ich und viele Eltern von Kindern mit Behinderung. Selbstverständlichkeit vorleben, Fragen beantworten, Barrieren sichtbar machen und beseitigen – je mehr Menschen das tun, desto besser, seien sie nun selber von Behinderung betroffen oder nicht. In dieser Rolle arbeiten wir natürlich daran, sie unnötig zu machen. Je enger die Welten zusammenrücken, desto weniger werden Vermittler gebraucht. Mein Ziel ist, dass meine Tochter ein selbstbestimmtes Leben führen kann – ohne mich als Dolmetscher.

Wagen wir einen Blick zwanzig Jahre in die Zukunft: Wie kann ein inklusives gesellschaftliches Zusammenleben einer heterogenen Bevölkerung zwischen Menschen mit unterschiedlichsten sozialen, kulturellen oder auch körperlichen Voraussetzungen gelingen?

Schauen wir nach Italien oder in die USA, wo die Inklusion schon seit den 70er-Jahren gesetzlich verankert ist, anders als bei uns. Allein eine konsequente gesetzlich vorgeschriebene Barrierefreiheit, wie beispielsweise in den USA, verändert eine Gesellschaft merklich. Wenn ich ganz selbstverständlich überall mit meiner Tochter hinein- und hinaufkomme, dann ist sie dort keine Ausnahme, sondern sehr viel öfter ein gewohnter Anblick. Dann reden Menschen mit ihr und nicht wie hier in Deutschland fast nur mit mir, die ich den Rollstuhl schiebe. Wirkliche Barrierefreiheit wäre aber nur ein kleiner Baustein, den wir hierzulande benötigen, um weiter auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft zu kommen. Andere Bausteine wären eine erfolgreiche Inklusion in der Schule wie im Arbeitsleben, bei Wahlen, beim Wohnen, bei der Freizeitgestaltung. Wenn wir uns begegnen, sei es im Museum, im Büro oder im Klassenzimmer, dann wächst mit jeder Begegnung und jeder Unterhaltung die Gesellschaft ein kleines Stück weiter zusammen. Allerdings sehen wir am Beispiel anderer Länder auch, wie weit der Weg noch ist und wie schnell es auch wieder rückwärts gehen kann, weg von der Inklusion hin zur Abschottung und Spaltung einer Gesellschaft. Ich fürchte leider, zwanzig Jahre werden nicht reichen, es wird auch keine Ziellinie geben, die wir überschreiten und für immer und ewig „inklusiv“ sind. Die Rahmenbedingungen für eine gelingende inklusive Gesellschaft zu schaffen, ist eine politische Aufgabe, sie mit Leben zu füllen, unser aller und das jeden Tag neu.

Frau Roth, vielen Dank für dieses Interview!

Foto: © Anké Hunscha www.photographie-hunscha.de

Buchtitel Sandra Roth „Lotta Schultüte“ im KiWi-Verlag

Sandra Roth, geboren 1977, studierte Politikwissenschaften und Medienberatung in Bonn, Berlin und den USA. Nach ihrem Diplom absolvierte sie die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitet seitdem als freie Autorin, u. a. für Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Brigitte. 2013 erschien ihr erstes Buch »Lotta Wundertüte« bei Kiepenheuer & Witsch. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Köln.