Skip to main content

Der Berufs- und Fachverband Heilpädagogik e. V. (BHP) hat einen offenen Brief an die Redaktion der Welt veröffentlicht. Anlass ist der im Ressort Debatte erschienene Beitrag von Kristina Schröder „Was wir uns künftig nicht mehr leisten können“, der zentrale Fragen von Behinderung, Teilhabe und Sozialstaat aus Sicht des BHP verkürzt, problematisch und in Teilen stigmatisierend darstellt.

Mit dem offenen Brief nimmt der BHP öffentlich Stellung und ordnet den Beitrag fachlich, rechtlich und menschenrechtlich ein.

Kritik an Sprache und Deutungsrahmen

In ihrem Kommentar verwendet Kristina Schröder durchgängig den Begriff „Behinderte“ und reproduziert damit ein defizitorientiertes Verständnis von Behinderung, das in der Heilpädagogik, Behindertenpädagogik und den Disability Studies seit Jahrzehnten überwunden ist. Behinderung ist keine individuelle Eigenschaft, sondern entsteht durch gesellschaftliche Barrieren, Ausschlüsse und strukturelle Benachteiligungen.

Besonders kritisch bewertet der BHP die wiederholte Gegenüberstellung von „wünschenswert“ und „leistbar“. Diese Perspektive erweckt den Eindruck, Teilhabe, Selbstbestimmung und Lebensqualität von Menschen mit Beeinträchtigungen seien ein verzichtbarer Luxus – eine Sichtweise, die ethisch wie rechtlich unhaltbar ist.

Eingliederungshilfe ist kein Luxus, sondern ein Recht

Die Eingliederungshilfe ist keine wohlfahrtsstaatliche Großzügigkeit, sondern die Umsetzung verbindlicher Menschenrechte. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland verpflichtet, gleichberechtigte Teilhabe und Inklusion zu gewährleisten. Das Bundesteilhabegesetz steht für den Paradigmenwechsel von Fürsorge hin zu einklagbaren Rechten.

Wer diese Rechte als politisch „unangreifbar“ problematisiert, stellt letztlich ihre rechtliche Verbindlichkeit infrage.

Unzulässige Vergleiche und verkürzte Darstellungen

Der Vergleich von Eingliederungshilfe und Altenpflege ist aus fachlicher Sicht nicht haltbar. Während Pflege häufig eine zeitlich begrenzte Versorgung darstellt, ist Eingliederungshilfe für viele Menschen ein langfristiger Lebensmittelpunkt, in dem Biografien, Beziehungen und Selbstbestimmung ermöglicht werden.

Auch die Darstellung von Schulbegleitungen verzerrt die Realität: Der steigende Unterstützungsbedarf verweist nicht auf eine „Überdehnung“ von Teilhaberechten, sondern auf strukturelle Defizite im Bildungssystem, fehlende multiprofessionelle Teams und unzureichende personelle Ausstattung.

Kosten, Verantwortung und gesellschaftlicher Nutzen

Ja, die Kosten der Eingliederungshilfe steigen. Doch eine rein fiskalische Betrachtung greift zu kurz. Investitionen in Teilhabe, Bildung und Assistenz verhindern langfristig höhere Folgekosten durch Exklusion, Institutionalisierung und soziale Abhängigkeit. Zudem bleiben wesentliche Kostentreiber wie Fachkräftemangel, Tarifsteigerungen und strukturelle Unterfinanzierung im Beitrag unerwähnt.

Verantwortung von Medien

Der BHP appelliert an Medien mit großer Reichweite, ihrer publizistischen Verantwortung gerecht zu werden. Komplexe sozialpolitische Fragen müssen differenziert, fachlich fundiert und menschenrechtsbasiert diskutiert werden – nicht auf Kosten von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Eine Gesellschaft zeigt ihren Zustand nicht daran, was sie sich „leisten kann“, sondern daran, wen sie schützt, beteiligt und ernst nimmt.

Vollständiger offener Brief zum Download