Jean Paul Muller

Jean Paul Muller, Generalökonom der Salesianer Don Bosco Rom, Italien, Gründungsmitglied der IGhB und langjähriger Vorsitzender des BHP e.V.

Vier Thesen zur Corona-Pandemie

These 1: Die derzeitige Krise fordert uns als HeilpädagogInnen besonders heraus, weil wir zum einen nicht richtig vorbereitet waren auf eine solche Pandemie. Kaum einer von uns kennt noch aus der eigenen Erfahrung Krankheiten, welche tausende Menschen infizierten, wie die Pest, Cholera, usw. Wir wissen um die Gefahren von Masern, Malaria, Typhus, Röteln, aber wir waren bisher so sicher, dass wir als Menschen diese Krankheiten im Griff haben.

Zum anderen sind wir als HeilpädagogInnen nun gefordert, Antworten auf Fragen und Situationen zu geben, die wir selber persönlich nur schwer meistern können. Wir hatten uns daran gewöhnt, in einer Welt zu leben, welche unaufhörlich kommuniziert, in welcher jede/jeder und alles fast jederzeit erreichbar war. Und nun müssen wir lernen, mit Distanz umzugehen, müssen kreative Lösungen finden, um unsere Nähe auszudrücken und brauchen eine neue Form das „Daseins“.

HeilpädagogInnen, deren Kernbasis des Handelns der Dialog und die Beziehungsebene ist, haben nun zu lernen, wie sie dieser Situation des Corona-Virus einen Sinn geben können. Nicht nur Infizierte, sondern auch der große Teil der Bevölkerung ist verunsichert und diese Verunsicherung ist eine Frage mit einem weiten Hintergrund: was muss ich tun, um sicher durch die Zeiten des Virus zu kommen, was bedeutete es, mit mir alleine zu sein, nicht zu jenen zu gehen, die mir helfen, meine Zeit tot zu schlagen, was bedeutet es für mich, in Schlangen vor Supermarkt und Apotheke zu warten, Anordnungen von Sicherheitskräften zu befolgen, … wer bin ich eigentlich noch???

Durch die Vorsichtsmaßnahmen der Regierung wurden wir zu VirusträgerInnen degradiert, der Mensch, der wir sein wollen, wird bestimmt von einem fürs Auge unsichtbaren Ding. Viele Menschen, mit denen wir arbeiten, verstehen nicht oder nicht ganz, warum denn nun eine Maske zu tragen Pflicht ist, warum es keine Umarmung mehr gibt, warum wir selbst beim Essen an einem gemeinsamen Tisch Abstand halten müssen. HeilpädagogInnen müssen jetzt dem einzelnen Menschen helfen, sich seiner selbst sicher zu sein (sicher zu werden), müssen ihn unterstützen, neue Wege zu erlernen, um Gefühlsreaktionen und Zuneigungen von anderen zu verstehen, müssen Trost und Annahme vermitteln, die in dieser Krise verstanden werden.

These 2: Eine Chance sehe ich in den vielen Solidaritätsbekundungen der Menschen in ihren Straßen, Nachbarschaften, Vereinen, usw. Diese Krise macht uns bewusst, wie wichtig mir Menschen sind und wie abhängig ich bin von anderen, aber auch von Dingen. Das gewachsene Interesse an allem, was mit Religion zu tun hat, zeigt die tief in uns ruhende und oft verkümmerte Ahnung von etwas Größerem, dem wir eigentlich vertrauen und zu welchem wir in unserer Not Beziehung aufnehmen. Somit tut sich eine neue Chance auf, die Rahmenbedingungen meines Lebens und das derjenigen, mit denen ich arbeite, neu zu justieren, neu auszurichten.

Die Skala von dem, was wichtig ist und dem, was nicht so wichtig ist, ist für uns alle verändert worden. Das wird auch einen enormen positiven Einfluss auf das Leben in unseren Wohngruppen, Altenheimen, Kitas usw. haben. Und ich bin sehr davon überzeugt, dass HeilpädagogInnen ihren Auftrag behalten, mit Kraft, Verantwortung und Hoffnung dem Menschen Assistent in allen Lebenslagen zu sein – nur unter veränderten Bedingungen. Dabei ist es wichtig, dass sie die Anliegen der ihnen Anvertrauten auch als Ganzes voranbringen. Politisches Handeln ist jetzt sehr wichtig, damit die Menschen Lebensbedingungen erhalten, in denen sie, trotz der Gefahren von Ansteckung und den kollateralen Schäden durch das Virus im sozialen Leben, sich entfalten können. Das „Danach“ der Pandemie hat bereits jetzt begonnen, für uns HeilpädagogInnen wird es eine Zeit, in welcher wir unsere Werte und unser Berufsethos neu reflektieren müssen. Wir werden erleben, dass Gesetze, die zum Schutz der Persönlichkeit existieren, abgeschwächt werden, dass Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen anders definiert werden, dass wiederum Kostenrechnungen aufgemacht werden versus Lebensrecht – da wird die IGhB und jeder einzelne Berufsverband gefragt sein, sich einzumischen.

These 3: Europäische Solidarität heißt für mich, dass wir schnellstmöglich wieder auf der politischen Ebene die neu errichteten Hindernisse der Mobilität abbauen müssen. Die Staaten haben sich teils isoliert, um eigenes Gebiet und eigene Staatsangehörige zu schützen. Das Gleiche gilt für uns und unsere Berufsverbände. Zusammenarbeit zwischen uns muss geprägt sein von einem tieferen Vertrauen darauf, dass auch andere Kulturen und Sprachen einen Reichtum enthalten, von dem ich selber lernen kann und an dem ich wachsen kann. Wenn nun in Kürze in einigen Ländern neue Modelle zur Betreuung von Menschen mit Behinderung diskutiert werden, ist es wichtig, dass wir alle davon erfahren und gemeinsam über Stärken und Schwächen solcher Modelle diskutieren. Wenn Distanz-Lernen und zunehmende Videokonferenzen üblich werden, brauchen wir trotzdem Begegnungen auf einer menschlichen Ebene, die gut vorbereitet und mit Inhalten gefüllt sein müssen. Es werden wohl weniger Kongresse und große Veranstaltungen stattfinden können, das bedeutet für uns in der IGhB, neue Ideen zu entwickeln, wie wir auf regionaler Ebene zusammenarbeiten, wie wir unsere Kommunikationsstrukturen (Zeitschriften, Homepages, Präsenz in den sozialen Medien…) koordinieren können und uns gegenseitig befruchten hinsichtlich Technik, Kommunikations-Know-How und vor allem der Präsenz heilpädagogischer Inhalte in den Medien.

In manchen Fensterscheiben hängen derzeit Regenbögen, meist von Kindern gemalt, und dazu ist dann geschrieben „Es wird alles gut“. Das sehe ich nicht so: die Toten kommen nicht zurück; die Schwerkranken, wenn sie sich dann erholen, erlebten Traumata; diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben, finden so schnell keine wieder; es stimmt: alles wird wieder irgendwie werden, aber wie, das wissen wir nicht! Deshalb müssen wir uns vorbereiten auf das, was kommen kann, zum Beispiel auf weniger Einnahmen durch Mitgliederbeiträge, auf erhöhte Kosten für die Mitgliederbetreuung, auf anwachsende Spesen für die digitale Präsenz, auf den Umgang mit der künstlichen Intelligenz, auf neue Formen von Behinderungen und Ängsten, die unsere Gesellschaften herausfordern und vieles mehr.

Zu all dem, was wir mit dem Coronavirus erleben, kommt noch eine zusätzliche – wenn auch nicht gerade tröstliche – Erkenntnis: Für den SARS und COVID und alle diese Viren ist es bisher effektiver gewesen, anstatt – bildlich gesprochen – sibirische Eisbären zu infizieren, sich in Menschen einzunisten, schon allein, weil bald weniger Eisbären aufgrund des klimatischen Wandels vorhanden sein werden. Und die ökologische Krise, die wir benannt bekamen, vor welcher wir gewarnt wurden, ist viel gefährlicher und wird schlimmere Folgen für uns alle haben, als dieses Virus. Je mehr wir an der biologischen Vielfalt zerstören, umso mehr Schaden richten wir Menschen gegen den Menschen an! Die ökologische Krise, in welcher wir uns befinden, wird eine Pandemie nach der anderen produzieren. Sich jetzt mit Gesichtsmasken und mit Enzymen auszustatten, ist nur im Ansatz hilfreich. Das Übel liegt viel tiefer und wir müssen dieses an seiner Wurzel zu fassen bekommen, beispielsweise, indem wir uns nach der Corona-Krise nicht an einer globalen Finanzmarkt-Sanierung orientieren, sondern an einer Welt, die sich erholen muss, an einer Wirtschaft, die nachhaltig denkt und an einer Werteskala, die sowohl den einzelnen Menschen als auch die gesamte Menschheit respektiert.

These 4: Heilpädagogen werden in nächster Zukunft mehr als handelnde Heilende denn als dozierende PädagogInnen gefragt sein und unsere Berufsgruppe wird dort an Bedeutung gewinnen, wo wir bisher nur randständig vertreten waren.

Großartig: jene KollegInnen, die in der Lage sind, sich auf die neuen Umstände einzulassen und umzustellen und die heilpädagogische Tradition in eine „andere“ Zukunft transferieren!

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